Das Kabuler Musikerviertel Kucheh Kharabat: Geschichte einer Lage

Seit seiner Einrichtung in den 1870er Jahren hat das Kabuler Musikerviertel Kucheh Kharabat die Phantasie vieler Afghanen beflügelt. Das Viertel wurde seither als Ort betrachtet, an dem lange Zeit traditionelle Lebens- und Überlieferungsformen das Leben seiner Bewohner prägten, bis diese zunehmend in Konflikt und Austausch mit Entwicklungen der Moderne gerieten. Aus solchen Verortungen zwischen Tradition und Moderne wird heute meist die Rolle von Musik bei der Formung kultureller Identitäten in Afghanistan bestimmt.

Meist wird die Kucheh Kharabat als Ort eines traditionellen Kontinuums beschrieben und ist damit zu einer Chiffre nationalen Kulturverständnisses geworden, die beinahe verdeckt, wie der Ort neben der symbolischen, eine tatsächliche räumliche Wirkung entfaltet hat.

Manchmal bin ich der Himmel, manchmal bin ich Gottes Thron,
manchmal bin ich Negation, manchmal Affirmation
Manchmal bin ich Moschee, manchmal bin ich Kirche,
und manchmal bin ich Kaaba und Mekka.
Oh Sufi, höre auf den Sinn meiner Worte,
Ich bin der Spiegel von Gottes Sein. Ich bin die Himmelssonne.
Ich bin die Seele von Kharabat, ich bin der Geliebte von Kharabat.

(Mastan Shah Kabuli)[1]

Von der kleinen Gasse in der Kabuler Altstadt sind zweifellos Wirkkräfte auf gegenwärtige afghanische Identitäten ausgegangen. Neben den Vorstellungen von einer Kontinuität kultureller Überlieferung ist das aber nicht zuletzt der Fähigkeit gedankt, scheinbar diskontinuierliche, unvereinbare und kontroverse Ideen an einem Ort gemeinsam zur Vorstellung zu bringen. Dieser Vorgang lässt sich besser begreifen, wenn man nicht nur den zeitlichen Linien der Überlieferung, der Tradition und der Geschichte ihrer Brüche und Transformationen folgt, sondern vielmehr die Räume und räumlichen Anordnungen in Betracht zieht, in denen sich solche Transformationen vollzogen haben. Die Geschichte der Kucheh Kharabat zeigt sich dann als eine Geschichte von räumlichen Anordnungen, in der sich der empirische Raum, der soziale Raum und der poetische Raum ineinander entwickeln. Diese Räume haben in der Kucheh Kharabat eine gemeinsame Geschichte, zu deren Erkundung aus einer topografischen Perspektive ich hier einige Vorschläge machen will

1. Eine verwüstete Lage

https://search.alexanderstreet.com/preview/work/bibliographic_entity%7Cvideo_work%7C1870979

In einer Szene seines Dokumentarfilms „A Kabul Music Diary“ [2] aus dem Jahr 2003, geht John Baily, der Macher des Films, gemeinsam mit dem Kabuler Rubabspieler Ghulam Hussain durch die Trümmer der Kucheh Kharabat in der Kabuler Altstadt. Die Szene ist in besonderer Weise erschütternd, denn die Lehmbauten des ehemaligen Musikerviertels sind buchstäblich dem Erdboden gleichgemacht. Der Musiker führt den Filmemacher durch seinen von Granaten eingeebneten Geburtsort und identifiziert dabei die Lage von Wohnhäusern der angesehensten Kabuler Musikerfamilien. Anhand von vagen Lehmanhäufungen lassen sich deren Grundrisse gerade noch erahnen. Die Zerstörung hat auf diese Weise das soziale Gefüge der Künstlergesellschaft, die hier ihr Zuhause hatte, gewissermaßen als Kartenabdruck im Boden freigelegt – eine Karte, die nun erst vor Ghulam Hussain ausgebreitet sichtbar wird und die er im Gehen aus der Erinnerung beschriftet: „Hier war das Haus von Ustad Sarahang, hier war das Haus von Ustad Rahim Bakhsh, hier war das Haus von Ustad Mohammad Omar…“
Ghulam Hussein rekonstuiert auf diese Weise eine Erinnerungsgeschichte afghanischer Musik auf einer mentalen Karte aus Namen, Texten und Klängen. Die Kucheh Kharabat kommt dabei als das konkrete Stadtviertel, ebenso wie als ein Ort der Andersheit im Verhältnis zur angrenzenden Stadt in den Blick. Seit Foucault 1967 den Begriff der Heterotopie geprägt hat, wurde diese These schon auf so gut wie jeden gegenwärtigen Stadtraum übertragen, aber auf kaum einen Ort treffen Foucaults Überlegungen zum heterotopischen Potential von Orten so zu, wie auf das Kabuler Musikerviertel. In seinem Aufsatz aus dem Jahr 1967 definiert Foucault eine Reihe von Eigenschaften für Orte, die gegenüber dem sozialen Gefüge der Gesellschaft eine Sonderrolle einnehmen.

Heterotopien wäre demnach wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.[3] Sie wären außerdem „Orte, die in Beziehung mit allen anderen Orten stehen, aber so, dass sie alle Beziehungen, die durch sie bezeichnet, in ihnen gespiegelt und über sie der Reflexion zugänglich gemacht werden, suspendieren, neutralisieren, oder in ihr Gegenteil verkehren.“ [4]

Die Wirkungen, die von der Kucheh Kharabat ausgingen, sind genau in dieser Art widergelagert und der zerstörte Ort in Kabul steht auf diese Weise bis heute in Verbindung nicht nur mit den Erinnerungen der Afghanen sondern nun auch mit den Institutionen des Westens, die in gegenwärtige afghanische Kulturpolitiken verwickelt sind und so auch deren Lagerung spiegelt. In welcher Weise der wirkliche Ort Kharabat sich als heterotopisch wirksamer Ort in seine Umgebung hineingezeichnet hat, und wie sich die utopische Aufladung des realen Ortes vollzieht, will ich im Folgenden genauer erörtern.

2. Historie des Raums

Foucault skizziert zunächst in seinem Aufsatz die Historizität des Raums in der abendländischen Erfahrung. Demnach wäre das mittelalterliche Denken in Lokalisierungen abgelöst von einem Prozess der Ausdehnung, der heute in eine Erfahrung von Lagerungsbeziehungen mündet. Die Geschichte der Kucheh Kharabat beginnt zu einem Zeitpunkt, als diese abendländische Erfahrung sich schon weit in den Orient hinein erstreckt hatte. Karten von Kabul Ende des 19. Jahrhunderts zeigen die Stadt eingespannt in die geopolitische Interessenlage. Es handelt sich um britische Militärkarten, welche die Aufmarschrouten der britischen Strafexpedition von 1878 festhalten. Sie sind ausgerichtet auf den Bala Hissar, den Festungsberg, auf dem sich der Palast der Kabuler Amire befand. Amir Sher Ali Khan, der Afghanistan in den 1860er Jahren regierte, hatte den Anlass für die britische Intervention mit der Einrichtung einer russischen Gesandtschaft in Kabul geliefert. Die Anglo-Russischen Interessen waren schon 1869 auf einer Konferenz im indischen Ambala diskutiert worden, an der Amir Sher Ali Khan teilgenommen hatte. Vermutlich während dieser Verhandlungen beeindruckte ihn die Musikkultur am Hof des indischen Fürstentums. Der Eindruck muss so nachhaltige Wirkung gehabt haben, dass Amir Sher Ali Khan in Folge indische Musiker für seine eigene Residenz in Kabul engagierte. Die Ankunft dieser Gründergeneration der Kabuler Musikerelite war derart zu diesem Zeitpunkt schon eingeflochten in die Konfliktlandschaft, die Afghanistan bis heute darstellt.[5]

Die Kucheh Kharabat – die Straße, in der die Musiker angesiedelt wurden, befindet sich nordwestlich des Festungsbergs, in unmittelbarer Nähe der Residenz. Die Musiker traten von dort aus ihren Dienst am Hof an. Ihre Aufgabe bestand aber nicht nur in der Repräsentation und Unterhaltung, sondern auch in der Unterrichtung der Fürstenfamilie, die auf eine künstlerische Bildung Wert legte. Mit der Ansiedelung der indischen Musiker am Fuß des Festungsberges, war damit dort außerhalb des Machtzentrums und auch in Opposition zu den Praktiken am Hof selbst, ein spezifisches Bildungsideal installiert. In diesem Gegenüber war schon ein erstes lokales Widerlager angelegt und ein Raum eröffnet, der anderen Regeln gehorchte. Denn im Unterricht kehren sich die Machtverhältnisse um. Amir Sher Ali Khan wie auch sein Nachfolger Abdur Rahman lernten beide von ihren Hofmusikern das Rubabspiel.

Ustad Qassim (2nd man sitting from the left) with Ustad Faiyaz Khan
Source: Book of commemoration for the first anniversary after Ustad Qasim’s death
(online Ressource University of Arizona)

Neil McGregor schildert eine vergleichbare Situation anhand einer Moghulminiatur aus dem 16. Jahrhundert. Die Abbildung zeigt einen Prinzen, der einen Derwisch aufgesucht hat, um religiöse Belehrungen zu empfangen. McGregor weist auf die ungewöhnlich devote Haltung des Prinzen gegenüber dem religiösen Lehrer hin und hält eine ähnliche Darstellung eines europäischen Königs zur selben Zeit für schwer vorstellbar.[6] Diese Art des Verhältnisses von Macht und Kunst nimmt eine Sonderstellung ein. Die Fürstenbildung am Kabuler Hof des 19. Jahrhunderts wird in vielem dem Vorbild aus dem Moghulreich entsprochen haben. Für die in der Kucheh Kharabat angesiedelten Musiker bedeutete das einerseits eine existentielle Abhängigkeit von ihrem Patronat, die aber auch von der Toleranz alternativer Praktiken bedingt war.
Diese anderen Praktiken hatten einen Ort, zu man sich hinbewegen musste, oder von dem aus man sich bewegte und der durch eine ganze Reihe von Ritualen vom gewöhnlichen Raum der Gesellschaft abgetrennt war.[7]
Zunächst war diese Bewegung nicht auf die Stadt hin ausgerichtet, sondern auf den Palast. Für die Stadt stellte das Musikerviertel zunächst den realen anderen Raum nur insofern dar, als seine Qualitäten der Herrscherfamilie vorbehalten waren.

Diese Ausrichtung änderte sich im Verlauf der nächsten 100 Jahre deutlich und mit der Richtungsänderung ging eine Änderung der lokalen Praktiken und Wirkungen einher.
Baily beschreibt, wie sich über die Abfolge von wenigen Generationen das Selbstverständnis und die Praxis der Musiker aus der Kucheh Kharabat stetig verschiebt. Diese Verschiebung zeichnet sich zunächst als ästhetischer Prozess ab. Sie beginnt mit einer Verschmelzung verschiedener musikalischer Elemente – namentlich der indischen Form der Ghasalvertonung, der khorasanischen Art der freien Verknüpfung von Gedichtversen und dem ländlichen Stil extatischer Instrumentalsektionen aus der Pashto-Volksmusik. Diese Elemente verbinden sich laut Baily zu einer autarken Identität Kabuler Kunstmusik, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts gemeinsam mit der Idee einer homogenen afghanischen Nationalidentität konstruiert wird.[8] [9]

Es wundert nicht, dass in der Folge die Migration von Ideen der Moderne nach Afghanistan entlang von medientechnischen Bewegungen verläuft. Für die Musiker in der Kucheh Kharabat vollzog sich gänzlich ein räumlicher Paradigmenwechsel mit der Einrichtung des ersten Kabuler Radiosenders. Radio Afghanistan rückte den Palast aus dem Blick des Musikerviertels und eröffnete stattdessen eine Aussicht zunächst auf die Stadt und mit der Installation eines längerwelligen Senders schließlich das ganze Land.
Die Bewegungen der Musiker verlaufen von nun an zwischen ihrem Wohnort am Rande der Altstadt und der Radiostation im Zentrum der neugewachsenen bürgerlichen Viertel. Damit rückt die Kucheh Kharabat einerseits geografisch an den Rand der Stadt und ragt gleichzeitig immer stärker in ihre Mitte hinein.
In der Folge entfaltet sich die heterotopische Wirkung dieses anderen Ortes, der in der Lage war, die kontroversesten Formen an einem Platz zu vereinen.

Manchmal bin ich Moschee, manchmal bin ich Kirche,
und manchmal bin ich Kaaba und Mekka.

(Mastan Shah Kabuli)

3. Unvereinbare Orte am gleichen Platz

Ein Video auf Youtube unter dem Titel „Beltoon wa Khomari House Party Part 1“ zeigt eine Szene, die sich Anfang der 1980er Jahre so wiederholt in einem der Häuser der Kucheh Kharabat zugetragen haben dürfte.
Wir sehen eine Party im Zustand fortgeschrittener Entgrenzung. Eine Gruppe von Musikern spielt. Die Aufmerksamkeit der Kamera gilt der Sängerin Khomari, die unübersehbar eine außergewöhnliche Erscheinung darstellt.
Die junge Frau sitzt vor den Musikern auf dem Boden. Sie trägt ihre langen dunklen Haare offen. Schweiß läuft ihr über die Stirn. Immer wieder zieht sie an einer Zigarette offensichtlich narkotisierenden Inhalts. Sie singt augenscheinlich in stark berauschtem Zustand. Außer Khomari befinden sich im Raum ausschließlich Männer. Unter deren teils fassungslosen Blicken und begleitet von Anfeuerungsrufen beginnt die junge Frau extatisch zu tanzen, bis sie sich erschöpft wieder zu Boden setzt.[10]

Eine zweites Video unter dem TitelAfghani Kharabati Music“ zeigt eine Gesangsmeditation in einem Kabuler Sufischrein. Die Aufnahme entstand in den 2000er Jahren, hätte sich aber in dieser Form auch zeitgleich mit Khomaris rauschhafter Tanzeinlage beobachten lassen, z.B. im Asheqan wa Arefan – einem Sufischrein, der unmittelbar an die Kucheh Kharabat grenzt und in dem solche Sufi-Meditationen regelmäßig von den Bewohnern der Kucheh Kharabat besucht wurden. Wir sehen den Schrein dichtgedrängt mit Männern gefüllt, die begleitet von einem kleinen Ensemble von Musikern in Trance fallen. Helfer verteilen Tee, fromme Männer in Mediation versunken, klatschen den Rhythmus der Musik mit Klangholzblöcken oder mit den Händen. Der Sänger stimmt ein Ghasal an, welches das Konzept mystischer Transgression schon im Titel hat: „Man jane Kharabatam, Shon jane Kharabatam – ich bin der Geliebte von Kharabat.“ Die Zuhörer zeigen verschiedenste Reaktionen von Trancezuständen und reagieren mit unterschiedlichsten lebhaften Gesten auf die Verse des Ghasals, die der Sänger vorträgt.[11] [12]
In den beiden Szenen stellen sich zwei vollkommen unvereinbare reale Orte im lokalen Zusammenhang dar – Bordell und Heiligenschrein. Der Raum des Sakralen und des Profanen kommen darin scheinbar mühelos gemeinsam nebeneinander zur Vorstellung.
Wenn auch die kontroversen Praktiken auf die entschiedene Ablehnung nicht nur des Klerus stoßen, sondern gesellschaftlich vollkommen tabuisiert bleiben und so die extremsten Gegenreaktionen provozieren, sind es doch genau diese disparaten Praktiken, die zur heterotopischen Aufladung des Ortes beitragen.[13]
Sie eröffnen erst jenen illusionären Raum, der der Gesellschaft ihre gegensätzlichsten Möglichkeitsformen vorführt, und entlarvt gewissermaßen den ganzen realen Raum und alle realen Orte, an denen das menschliche Leben eingeschlossen ist, als noch größere Illusion.[14]

Rose und Spiegel, Sonne und Mond – was sind sie?
Wohin wir blicken, war dein Antlitz nur.

(Khwaja Mir Dard)[15]

4. Die Funktion des Spiegels

Wir machen einen Sprung in die nähere Gegenwart, in eine Szene, in der sich die utopische Aufladung des anderen Orts Kharabat noch einmal für einen Augenblick vollzieht. Die Szene spielt in einem Wohnblock des Mikrorayons im Nordosten Kabuls.[16] In dem Plattenbau russischen Typs aus den frühen 1980er Jahren, hat die Familie Bakhsh eine Wohnung gemietet. Der Name Bakhsh nimmt auf der Landkarte der Kabuler Musikszene einen breiten Raum ein. Er wird besetzt von der Erinnerung an den Sänger Ustad Rahim Bakhsh. Muhammad Rahim Bakhsh wurde 1922 in der Kucheh Kharabat geboren. Der Gesangsunterricht den er dort erhielt, fiel in die Zeit, in der das Kabuli Ghasal dabei war, seine spezifische Form zu finden. Im Juli 2014 trifft ein Teil der weitläufigen Familie Bakhsh in besager Plattenbauwohnung zu einer Verlobungsfeier zusammen. Eine Reihe von Rahim Bakhshs Söhnen, Enkeln und Urenkeln haben sich auf dem Boden vor einem Fernsehschrank niedergelassen. Die Wand schmückt ein Teppich mit dem Bild der Kaaba in Mekka. Ein Harmonium wird gebracht. Auf die Bitte des Besuchers um ein Lied, dass die Bedeutung von Kharabat wiedergibt, beginnt Raji Bakhsh, ein Ghasal vorzutragen. Er singt zunächst noch ohne Worte einstimmende Melodiefiguren, die von seinen Brüdern ergänzt werden. In den so eröffneten Klangraum, setzt der Text mit folgender Zeile ein: „…nachdem mich dein Blick getroffen hat, werden die Worte Schenke und Weinglas nie wieder das gleiche bedeuten…“
Es ist dieser Moment, in dem sich das ganze semantische Feld des Begriffs Kharabat entfaltet, denn jedes einzelne dieser Worte stellt im Medium des Ghasalverses eine mehrfach codierte Repräsentation dar. Ein Wörterbuch der Sufi-Terminologie würde eine erste Entschlüsselung folgendermaßen vornehmen: Wein/Weinglas = Gottesliebe, Weinschenk = Gott, Schenke = Herz des Mystikers. Es handelt sich dabei aber zunächst nur um Konventionen, die den Eingang in einen speziellen Erfahrungsraum markieren.
Es ist nötig, die Topografie dieses Raums etwas genauer zu betrachten, denn der mystische Erfahrungsraum ist bemerkenswerterweise im Bild des Spiegels aufgehoben. Foucault hatte ja das Bild des Spiegels herangezogen, um die Verflechtung von utopischem und realem Raum zu demonstrieren, in welcher der reale Spiegel eine Differenzerfahrung erzeugt:

Durch den Spiegel entdecke ich, dass ich nicht an dem Ort bin, an dem ich mich befinde, da ich mich dort drüben sehe. Durch diesen Blick, der gleichsam tief aus dem virtuellen Raum hinter dem Spiegel zu mir dringt, kehre ich zu mir selbst zurück, richte meinen Blick wieder auf mich selbst und sehe mich nun wieder dort wo ich bin. Der Spiegel funktioniert als Heterotopie, weil er den Ort, an dem ich bin, während ich mich im Spiegel betrachte absolut real in Verbindung mit dem gesamten umgebenden Raum und zugleich absolut irreal wiedergibt, weil dieser Ort nur über den Punkt jenseits des Spiegels wahrgenommen werden kann.[17]

Michel Foucault

Foucaults Spiegelbild steht in einer gewissen Analogie zum mystischen Erfahrungsraum, insofern es einer subjektiven Wahrnehmungskorrektur dient.In der Sufiterminologie wird der Standort des Spiegels aber leicht verschoben. Muhammad Nasir Andalib, ein Sufi-Mystiker aus dem 18. Jahrhundert, spricht vom Wort Allahs, dass „in der Farbe des Lichts auf den Spiegel der Einbildungskraft geschrieben ist.“[18]
Der Spiegel, der die Differenzerfahrung des Subjekts möglich macht, wird auf diese Weise in das Subjekt selbst hineingerückt. Damit wird der Blick aus dem virtuellen utopischen Raum, zum Blick Gottes, der auf den Gottschauenden fällt. Dieser Spiegel ist nicht der reale heterotopische Spiegel Foucaults. Er ist dennoch ein analoges Raummodell, aus dem höchst reale Praktiken abgeleitet werden.
Denn für den mystischen Adepten folgt aus seiner eigenen Differenzwahrnehmung ein Prozess der Entsubjektivierung – eine schrittweise durch Praktiken der Askese und Extase eingeübte Mimesis an die göttliche Einheitserfahrung.[19]
Es handelt sich dabei um Praktiken, die hartnäckig die Subjektstrukturen abtragen. Khwaja Mir Dard, ein weiterer Mystiker aus dem 18. Jahrhundert stellt das Spiegelbild als Praxismodell folgendermaßen vor:

Meine Trübe ist der Aufglanzpunkt des Lichtstrahls der Reinheit. Wie sehr ich auch Eisen sein mag, Stoff doch für den Spiegel bin ich.“[20]

Khwaja Mir Dard

In dieser Metapher wird die Seele so zu einem Spiegel, dessen getrübter Zustand solange poliert werden muss, bis der materielle Körper selbst mit dem Aufglanz göttlicher Allheit in Übereinstimmung gebracht ist.
Die Musiker der Kucheh Kharabat waren ganz gewiss keine Sufiheiligen. Wenngleich auch eine Reihe von prominenten Sängern wie Ustad Sarahang aktive Mitglieder in Sufi-Orden waren, ist die Alltagspraxis der Musiker wohl eher im Bereich des Profanen zu suchen. Aber innerhalb der dichterischen Konzepte halten sich die Kabuler Sängerpoeten auf eine gewisse Weise im utopischen Raum und im materiellen Raum zugleich auf und es gelingt ihnen offenbar, zwischen diesen beiden einen Prozeß der Vermittlung zu stiften.
Foucault hat offengelassen, in welcher Weise der heterotopische Ort utopisch affiziert wird. Die Frage ist nun, ob sich dieser Vorgang aus dem Verhältnis des poetischen Raums zum realen Raum genauer bestimmen lässt.

Ich bin der Spiegel von Gottes Sein.
Ich bin die Himmelssonne.

(Mastan Shah Kabuli)

5. Der poetische Raum

Viele der mystischen Ghasale, die zum Kernrepertoire der Sänger aus der Kucheh Kharabat gehörten, formulieren provokante Gedanken. Einen Teil ihrer Wirkkraft verdanken sie zweifellos dieser politischen Ebene, die in den Texten auch angelegt ist. Liegt darin aber auch die Wirkung, in der die Zuhörergenerationen so nachhaltig angerührt wurden?
Die Namensgebung des Musikerviertels gibt einen Hinweis darauf, dass dieser Frage auch mit Überlegungen zum poetischen Raum nachgegangen werden muss, denn als Ortsname ist der Begriff Kharabat gewissermaßen etymologisch in die Struktur mystischer Poesie eingebunden. Der Name ist zunächst aus dem arabischen خراب (charāba) für Ruine abgeleitet. Im Persischen wird er außerdem als Synonym für Schenke, Spielcasino und Bordell genutzt. In der Sufiliteratur taucht der Begriff durchgehend als metaphorische Institution auf, wo er eben jenen eingeebneten, verwüsteten, ruinierten – und so für die Unio Mystica bereiteten Seelenzustand meint, und so die typische Verwirrung in der Rezeption mystischer Poesie stiftet. Die Interpreten der doppeldeutigen Verse suchen daher meist nach den Beziehungen zwischen den wörtlichen und metaphorischen Ebenen und fragen, ob  man sie profan oder sakral interpretieren müsse,  ob  Rumi den leibhaftigen oder den göttlichen Geliebten anspricht, ob die Kucheh Kharabat ein Heiligenschrein oder ein reales Bordell sei.
Zweifellos war sie letzteres auch. Die Rezeption belässt es denn auch meist bei dieser Feststellung – die mystische Poesie würde zwischen den Polen des Profanen und Sakralen schillern, und ihre poetische Qualität läge in diesem Schwebezustand, der einen alternativen Blick auf den realen Raum, und damit eine Neuperspektivierung der individuellen Erfahrung möglich macht.
Den realen Raum würde der poetische Ausnahmezustand schmücken und durch die Sonderrolle der Poesie auszeichnen.

Für den Literaturwissenschaftler Martin Endres liegt dieser Deutung jedoch eine eingeschränkte Vorstellung des poetischen Raums zugrunde, die permanent nach Entsprechungen der fiktionalen Objekte im empirisch-geografischen Raum sucht. Als ›poetisch‹ würde in dieser Sichtweise der Raum meist dann klassifiziert, „wenn die (fiktionalen) Objekte keine eindeutige und logische Topologie bzw. störungsfreie Orientierung im empirisch-geographischen Raum mehr zulassen.“[21]
Martin Endres schlägt statt dessen in seinem Aufsatz „Überlegungen zu einer konfigurativen Poetik“ vor, dass Dichtung nicht (nur) eine alternative Perspektive auf etwas ihr Äußerliches darstellt. Vielmehr müsse Poesie als ein Raum gedacht werden, der negiert, geographisch zu sein, der nicht lokal situierbar ist, auch nicht in der Sprache, sondern der durch die Sprache und als ein ausgezeichnetes Sprechen schon immer Raum ist.[22]
Demnach würde erst dann, wenn keine realen (sprachlichen) Entsprechungen zwischen dem poetischen Raum und dem empirischen mehr möglich sind, eine Übertragung des utopischen auf den realen Raum möglich. Hier könnte der Moment bezeichnet sein, in dem Orte mit utopischen Potential aufgeladen sich als Heterotopie darstellen, und auch Endres denkt diese Übertragung bewusst induktiv:
Die Ordnung des physikalischen Raumes kann nur von Seiten des Poetischen erfahren und gedacht werden, jedoch nicht umgekehrt. Jede Applikation und Übertragung des Außersprachlichen auf den sprachlichen Raum wird der monadisch-immanenten Logik des Letztgenannten nicht gerecht und degradiert das Poetische zur sekundären Repräsentation, zur ästhetischen Kopie.“[23]
In dieser Weise stellen der sakrale und der profane Raum keine Gegensatzpaare mehr dar. Mit anderen Worten, es spielt überhaupt keine Rolle, ob Kharabat nun der Ort ist, an dem die Gottesliebe ausgeschenkt wird, oder realer Schwarzmarktschnaps.Vielmehr kann der eine Ort nur durch das Durchlaufen des anderen erfahren werden.
Das ist der Einsatzpunkt auf den die Ghasalzeile trifft. Es ist der Moment, in dem Rafi Bakhsh und alle seine Vorgänger die Zeile ausgesprochen haben und in der den Zuhörern ihre Situation offenbar wird. Endres macht weiterhin auf den Moment der Realisierung aufmerksam, in welcher sich „Das Subjekt durch die Strukturlogik des poetischen Raumes einer Ordnung bewusst wird, die es schrittweise selbst (mit)entfaltet und die schließlich zugleich auf die Ordnung verweist und die Ordnung erfahrbar macht, in der es sich bereits vor dieser Tätigkeit befunden hat: dem geographisch-außersprachlichen Raum.“[24]
Als mit den Scud Raketen des Mudshaheddin Warlords Gulbuddin Hekmatyar im Bürgerkrieg 1992 die Machtverhältnisse um Kabul neu vermessen wurden, legten die Schussbahnen ein weiteres Mal ein neues Raster von politischen Koordinaten über die Stadt. Es erweiterte eine Reihe von Perspektivierungen, in der auch die Lage der unscheinbaren Künstlergasse Kucheh Kharabat mehrfach neu bestimmt wurde.
Hekmatyars Scud-Raketen schlugen schließlich auch in das semantische Herz des Ortes ein, denn unter den schillernden Assoziationen, die der Topos Kharabat in der persischen Sufi-Poesie aufruft, ist es die Bestimmung von Kharabat als Ruine, die an dem realen Ort auf tragische Weise zu sich gekommen ist. Die mystische Metapher bezeichnet jedoch den verwüsteten Zustand der Seele, in dem die widerständigen Strukturen des Subjekts eingeebnet sind und so durchlässig für die Erfahrung der Gottesbegegnung werden. Die Funktionen, die dem realen Ort Kharabat aus dem psychohygienischen Modell der mystischen Poesie heraus zukamen, werden in den heutigen Identitätsfindungen von vielen Afghanen schmerzlich vermisst. Denn die Heterotopien des Kabuls von heute sind die Wedding Halls, Shopping Malls, Guarded Communities, Verbunkerten Botschaften und die Kolonien außerhalb der Grenzen – also wir selbst.


[1]John Baily, Songs from Kabul: The Spiritual Music of Ustad Amir Mohammad, SOAS Musicology Series (Burlington, VT: Ashgate, 2011)

[2] Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland., A Kabul Music Diary, Ethnographic Video Online, Volume 2 (London, UK : Royal Anthropological Institute, 2003).

[3] Michel Foucault, ‘Von Anderen Räumen’, in Raumtheorie. Grundlagentexte  Aus Philosophie Und Kulturwissenschaften, ed. by Stephan Günzel, Jörg Dünne, and Hermann Doetsch, Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft : Stw. – Berlin : Suhrkamp, 1968-, 1800 (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1967), pp. 317–27.

[4] Foucault.

[5]John Baily, War, Exile and the Music of Afghanistan: The Ethnographer’s Tale, SOAS Musicology Series (Burlington, VT: Ashgate Publishing Company, 2015).

[6] Neil MacGregor, Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten, trans. by Andreas Wirthensohn, Annabel Zettel, and Waltraud Götting, 6th edn (München: C.H.Beck, 2015).

[7] Es handelt sich um die in den indischen Gharanas üblichen Rituale der Stiftung von Lehrer/Schülerbeziehungen, Regeln der Familienstandsbewahrung und um andersartige religiöse Formen, in denen mystische Praktiken der Sufi-Orden in Opposition zum orthodoxen Islam ausgeübt wurden.

[8] Baily.

[9] Diese ästhetischen Transformationen war nicht nur eine stilistische Frage, sondern etablierten auch ein Format als künstlerisches Ideal, dass in besonderer Weise geeignet war, komplexe und kontroverse Inhalte in den Alltag der Zuhörer hinein zu vermitteln.

[10] https://www.youtube.com/watch?v=y_6qRZ-4QiI&list=PLpj-LsviZeqwL-X559Q6599V4FgsUx9XO

[11] https://www.youtube.com/watch?v=DgjXO8ncfaU&list=PL6D56692F59D0AEF3

[12] Konzerte, auf denen vorrangig Ghasale mystischen Inhalts vorgetragen wurden, fanden keineswegs nur in ausgewiesen sakralen Orten wie Sufischreinen statt, sie waren vielmehr üblich bei jedweder öffentlichen oder privaten Veranstaltung – von Hochzeiten über Landmessen, oder private Feiern (Vgl. Baily)

[13] Die heterotopische Funktion des Ortes wurde nun von der Videoplattform übernommen. Die Kommentare zu Khomaris Tanzperformace zeigen, dass dieses heterotopische Szenario bis heute, 30 Jahre nach der Aufnahme des Videos, Zuschauer zu den kontroversesten (Selbst)reflexionen hinreißt.

[14] Foucault.

[15] Annemarie Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam: Die Geschichte des Sufismus, 6th edn (Frankfurt am Main: Insel Verlag, 1995). S. 410

[16] Eigene Aufnahme des Autors

[17] Foucault.

[18] Schimmel. S.595

[19] Das ist der ketzerische Gedanke – Gott im Körper sich anzuähneln. Es sind diese Ideen, die den mystischen Strömungen des Islam bis heute der Orthodoxie suspekt sind.

[20] Schimmel. S. 542

[21]Martin Endres, ‘Der Poetische Raum. Überlegungen Zu Einer Konfigurativen Poetik’, in Raumlektüren: Der Spatial Turn Und Die Literatur Der Moderne, ed. by Tim Mehigan and Alan Corkhill (transcript Verlag, 2014) <http://www.academia.edu/5778780/Der_poetische_Raum._%C3%9Cberlegungen_zu_einer_konfigurativen_Poetik_full_text_> [accessed 24 August 2016].

[22]Endres.

[23]Endres.

[24]Endres.