Kabul Klavier

Die Fotografien von zerstörten Instrumenten in den Räumen des afghanischen Rundfunks, die nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 bekannt wurden, sind Anlass für eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie wir solche Konfliktbilder betrachten.
Im September 2021 wurden die zerstörten Instrumente, darunter zwei Konzertflügel, von einem britischen Journalisten fotografiert und auf Twitter geteilt. Die Taliban hatten aber nie die Verantwortung für den Zerstörungsakt übernommen.
Die Art und Weise, in der die Instrumente unkommentiert, aber unübersehbar für eine weltweite Öffentlichkeit drapiert waren, versetzt uns gezwungenermaßen in einen voyeristischen Modus, in dem wir – wie Susan Sonntag es ausdrückt – „das Leiden anderer Betrachten“. Das Bild der zerstörten Klaviere ist nach ikonografischen Gesetzen konstruiert und gehorcht den Regeln einer Ästhetik des Leidens, welche unserer Kategorien des Ethischen und Ästhetischen provoziert. Es beunruhigt einige unserer ideologischen Gewissheiten im Afghanistankonflikt. Das Klavier in Kabul soll aufrütteln, verschrecken oder zum Handeln motivieren und erfüllt in seiner Ambiguität einige der Erwartungen, die wir gemeinhin an Kunstwerke richten.
In der Auseinandersetzung mit den Bildern der zerstörten Klaviere stelle ich mir die Frage, ob das ikonoklastische Arrangement im Kabuler Rundfunkstudio in Wirklichkeit tatsächlich ein Kunstwerk ist – ein subversiv geplantes autodestruktives Bild, dass in seiner ganzen ikonografischen Komplexität wahrgenommen werden sollte und das von seinen anonymen Autoren darauf angelegt war, genau zu diesem Zweck geteilt und verbreitet zu werden.

1. Ein rätselhaftes Leidensbild

September 2021. Kurz nachdem die US-geführten Truppen Afghanistan verlassen und die Taliban Kabul eingenommen hatten, fand Jerome Starkey, ein Reporter, der für die britische Sun arbeitet, in den Studioräumen des afghanischen Rundfunks folgende Szene vor: zwei große Konzertflügel und weitere Instrumente des Radiostudios waren schwer beschädigt und demonstrativ sichtbar für alle Vorbeigehenden in einem Sendesaal des Rundfunks platziert worden. Das Szenario erinnerte an die Bilder aus dem ersten Taliban-Regime Ende der 1990er Jahre, währenddessen Musikinstrumente zerstört und Musik aus der Öffentlichkeit verbannt worden war und schien so die schlimmsten Befürchtungen angesichts der bevorstehenden neuerlichen Herrschaft der Islamisten zu bestätigen. Die anwesenden Talibanwachposten konnten dem britischen Journalisten jedoch keine Auskunft geben, von wem und unter welchen Umständen die Pianos im Rundfunkstudio beschädigt worden waren. Stattdessen erklärten sie mit Nachdruck, dass sie die Instrumente schon so vorgefunden hatten, als sie den Radiosender besetzten. Jerome Starkey fotografierte die zerstörten Klaviere und postete die Bilder auf Twitter, wo sie für einige Tage einen Sturm der Entrüstung auslösten.

Frühjahr 2022. Jerome Starkey berichtet nun aus der Ukraine und teilt auf Twitter und Youtube die Bilder von ermordeten Zivilisten in Butscha ebenso wie die von zurückgelassenen Leichen russischer Soldaten in ihren Schützengräben.[1] Es ist Starkeys Geschäft, solche Leidensbilder herzustellen, die mich in ein voyeuristisches Dilemma stürzen. Ich kann nicht wegschauen, aber ich kann auch nicht einschreiten, ich kann lediglich, wie Susan Sonntag sagt, „Das Leiden anderer betrachten“. Starkeys Kalkül geht auf. Die rohe Gewalt, mit der die Klaviere in Kabul zugerichtet wurden, löst in der Tat bei mir körperliche Schmerzen aus. 2013, bei meinem zweiten Besuch in Kabul hatte ich selbst diese Klaviere noch intakt gesehen. Der Mitarbeiter des afghanischen Rundfunks, der mir die Räume des Senders gezeigt hatte, hatte mir auch stolz die Klaviere präsentiert, den Deckel der Klaviatur geöffnet und einige Tasten angeschlagen, wie um die Echtheit dieses Instruments zu bestätigen an einem Ort, an dem der Krieg die Erinnerung an Musik beinahe ausgelöscht hatte. Der Anblick der versehrten Instrumentenhülle verursacht mir nun die gleichen Reaktionen wir der Anblick eines versehrten menschlichen Leibs.

„Geh, wenigstens kannst du weit wegsehen und hören. Was können wir über das sagen, was wir vor unseren Augen sehen und nicht einmal seufzen können.“

Das hat jemand in Persischer Sprache auf Facebook unter Starkeys Bilder der zerstörten Instrumente in Kabul geschrieben. Es ist ein bitterer Kommentar, der an mich gerichtet ist, und an den wohlfeilen Schmerz, angesichts meiner Beobachterposition am Monitor meines Laptops.

Die Bilder der zerstörten Klaviere im Kabuler Rundfunk wurden laut einer Meldung auf dem Online-Nachrichtenportal republicworld.com[2] erstmals von einem mittlerweile nicht mehr existierenden Twitter-Account namens PanjshirProvin1 gepostet. Am 3. September 2021 wurden die gleichen Bilder über den Twitter-Account des afghanischen Sängers Aryan Khan geteilt.[3] Zwei Tage später, am 5. September, besichtigte der britische Reporter Jerome Starkey den Ort und schilderte seine Beobachtungen auf Twitter.[4] Am 6. September postete Jerome Starkey zwei weitere Bilder der Szene. Daraufhin wurde die Meldung von verschiedenen internationalen Nachrichtenagenturen aufgegriffen und kommentiert. Starkey hatte jedoch in seinem Twitter-Tweet explizit auch einige Beobachtungen erwähnt, die zumindest offenlassen, ob es tatsächlich Taliban waren, welche die Instrumente zerstört hatten. Das Gelände des Kabuler Rundfunks war zwar Ende August/Anfang September von Talibankämpfern besetzt worden. Sie hatten Wachtposten eingeteilt, um den Zugang zum Radiosender zu kontrollieren. Diese Posten versicherten Starkey offenbar einhellig und nachdrücklich, dass sie das Szenario mit den zerstörten Klavieren bei ihrem Eintreffen schon so vorgefunden hatten. Starkey schildert auch, dass die Talibankämpfer, die vermutlich nie zuvor einen Konzertflügel von Nahem gesehen hatten, geradezu fasziniert von den Instrumenten waren und mit kindlicher Neugier fortwährend die wenigen intakt gebliebenen Tasten der Klaviatur betätigten, solange Starkeys Kamera sie nicht anvisierte.


Am 29.12.2021 teilte jemand auf Facebook eine mit dem Smartphone gefilmte Szene, in der zu sehen ist, wie eine Gruppe bewaffneter Männer einige afghanische Instrumente (ein Harmonium, Tablatrommeln und eine Rubab) mit Steinbrocken zerschmettern.[5] So stark ist die Schockwirkung dieser Bilder, dass wir uns sicher sind, auch zu wissen, was auf den Bildern der zerstörten Klaviere zu sehen ist.
Als im Frühjahr 2022 die Gräuelbilder der ermordeten Bewohner Butschas in der Ukraine bekannt wurden, kursierten sofort Gerüchte, es würde sich dabei um eine ukrainische Fake-kampagne handeln. False-flag Attacken heißen in der Militärsprache solche Angriffe, die in falschem Namen verübt werden, um sie der Gegenseite anzulasten. Im Informationskrieg sind sie an der Tagesordnung. So sicher sind wir uns der menschlichen Skrupellosigkeit im Krieg, dass selbst angesichts der vermeintlich unhintergehbaren Bilder aus Butscha immer nur von „vermeintlichen“ russischen Kriegsverbrechen die Rede ist.

2. Ästhetik der Zerstörung

In Deutschland werden um den Jahreswechsel herum gehäuft immer die Klaviere abgegeben, die es nicht mehr lohnt, zu reparieren. Bei den Klavierbauern und Händlern sammeln sich dann auch viele Instrumente, die unvermeidlich abgewrackt werden müssen und die allenfalls zur Ersatzteilgewinnung verwendet werden können, weil ihr Reparaturaufwand ungerechtfertigt hoch wäre. Dort kann man sehen, dass nicht viel dazugehört, ein Klavier für immer unspielbar zu machen. In den wenigsten Fällen ist jedoch den Instrumenten auf den ersten Blick ihr Defekt auch anzusehen. Ein unscheinbarer Riss im Stimmstock, in der Gussplatte oder im Resonanzboden machen ein Klavier schnell unbrauchbar und schwer reparierbar. Auf der anderen Seite ist es gar nicht so einfach, ein massives Klavier mit bloßen Händen so zuzurichten, dass es den Eindruck völliger Zerstörung erweckt.

Wie genau sind die Beschädigungen der Kabuler Klaviere erfolgt? Zunächst wurden die Schalldeckel entfernt, was den Eindruck der Geschlossenheit und Vollständigkeit des Instrumentenkörpers mindert und den Blick in die verletzlichen feinmechanischen Innereien des Instruments freigibt. Eines der beiden Instrumente zeigt deutlichere Beschädigungen des Spielwerks, ein Großteil der Tastenhebel ist herausgelöst und zerbrochen. Auch die Standbeine und die Pedalmechanik sind abgeknickt. Obwohl substanziell, wirken diese Beschädigungen jedoch auf banale Weise zufällig und willkürlich. Die ganze ikonografische Kraft der Zerstörung kommt nur bei dem zweiten der beiden Instrumente zum Tragen, welches von seinen Standfüßen gekippt wurde, so dass eine Ecke der Klaviaturseite auf dem Boden aufschlägt und der Korpus nur am hinteren Ende von einem ebenfalls angekippten hölzernen Schemel in die Höhe gehalten wird. Erst dieses eigenartig in der Schwebe gehaltene, fragil wackelige Arrangement erweckt den verstörenden Eindruck, dass hier etwas nicht stimmt, dass wir auf das Resultat einer Katastrophe blicken.
Der Eindruck wird zusätzlich noch dadurch ergänzt, dass die auf einem der zuerst aufgenommen Bilder sichtbar herumliegenden Splitter und Möbelstücke zu einem späteren Zeitpunkt beiseite geräumt wurden, so dass nur noch der grotesk in der Schwebe gehaltene Konzertflügel als Einzelobjekt in dem ansonsten leeren Studiosaal sichtbar bleibt. Diese Anordnung unterstreicht den skulpturalen Charakter der Szene und lässt das beschädigte Instrument wie das Dokument einer provokanten künstlerischen Performance wirken. Wir haben es eindeutig mit einem ästhetischen Arrangement zu tun – und erst in dieser Inszenierung entfaltet die Ästhetik der Zerstörung ihre ganze Wirkkraft und macht das Bild des zerstörten Klaviers zu einem funktionalen Leidensbild.

The Taliban could turn that room into an exhibition space for people to visit. Entitled „Afghanistan 2021+“

LTT @Long_Tailed_Tit 5. Sep. 2021 Antwort an @jeromestarkey @bealejonathan und @Zabehulah_M33

Das hat jemand auf Twitter unter Starkeys Fotos geschrieben. Der Kommentator hat intuitiv erfasst, dass solche Zerstörungsbilder per se eine ästhetische Natur haben: Dass es nicht lediglich darum geht, die Instrumente unspielbar – und damit im Sinn der islamistischen Reinigungsideologie unschädlich zu machen, sondern vor allem darum, dass es so aussieht. Und mutet das Szenario im Kabuler Rundfunk nicht tatsächlich an wie eine Kunstinstallation im Whitecube einer modernen Kunstgalerie? Und wussten die mutmaßlichen Zerstörer nicht genau, wie ein Whitecube effektiv zu füllen ist? Ist ihnen nicht ebenso bewusst wie uns, welche Eigenschaften ein Bild haben muss, dass wehtun soll? Ist es nicht dieses Kalkül zerstörerischer Ästhetik, dass uns irritiert, weil es die Frage stellt, ob ein Foto wirklich authentisch sein muss, um seine aufrüttelnde Wirkung zu entfalten – bzw. vielmehr wie zerstörerisch es aussehen muss, um seine Wirkung zu entfalten?


Auch in dem Video von gegenwärtigen Instrumentenzerstörungen in Afghanistan, von dem ich am Anfang schon kurz gesprochen habe, ist eine solche Ästhetik der Zerstörung am Werk. Dort kann man beobachten, dass die bloße Unbrauchbarmachung der Instrumente den Akteuren nicht ausreicht. Wieder und wieder sehen wir die Kämpfer Steinbrocken auf die Instrumente werfen, ganz so als wollen sie den Augenschein der Zerstörung perfektionieren. Nach einem ersten Gewaltakt, bei dem alle Instrumente bereits beschädigt wurden, sehen wir beispielsweise, wie ein Mann einen Steinbrocken ein weiteres Mal ergreift, weil ihn offenbar das visuelle Ergebnis nicht zufriedengestellt hat und wie er erneut unnachgiebig auf die bereits beschädigten Instrumente einschlägt, solange bis deren widerstrebende Klangkörper endlich nachgeben und auch visuell ersichtlich so aufsplittern, dass sie schließlich den gewünschten Eindruck der Verwüstung darbieten.
Auch diese Instrumentenzerstörer kennen die Ikonografie des Leidens und sie kalkulieren, dass wir in der Lage sind, ihre Sprache zu lesen. Es geht ihnen um die Bildwirkung. Und auch sie wissen – vielleicht mehr als wir selbst – dass ihr Sakrileg keine unmittelbaren Folgen haben wird, sondern dass wir die Bilder nicht mehr und nicht weniger – als Bilder behandeln werden.

3. Bildakte

Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp nennt die Wirkung auf das Empfinden, Denken und Handeln, die aus der Kraft des Bildes und der Wechselwirkung mit dem betrachtenden, berührenden, und auch hörenden Gegenübers entsteht – einen Bildakt.
Die Idee, dass Bilder agieren können, steht unserer Auffassung entgegen, Bilder würden lediglich etwas Vorgängiges abbilden oder repräsentieren. Und bei genauerer Betrachtung sind wir tatsächlich allerorten von handelnden Bildern umgeben. Wir finden sie im weitesten Bereich der Bildgeschichte, so auch im Bereich der Politik, wo Bilder als »Verbündete oder Verräter politischer Macht«[1] erscheinen, des Militärs, wo sie »Waffengänge […] steuern oder gar zu ersetzen vermögen«[2], und der Wissenschaft, wo sie »durchweg nicht als Darstellungsinstrument, sondern als eigenes Analysemittel eingesetzt werden« [3].
Was also, wenn die anonymen Autoren des Kabuler Klavierszenarios jene Handlungsmacht der Bilder kannten? Wenn es sich um Spezialisten für Gräuelbilder handelte, wenn sie mit der Routine jahrelanger Erfahrung davon ausgingen, dass die Wirklichkeit des Krieges und die Wirklichkeit der Bilder ebenso wenig ineinander fallen, wie sie voneinander zu trennen sind? Für diesen Fall können wir den Anblick der zerstörten Klaviere nur als in jeder Hinsicht gelungenen Bildakt verstehen.

Von den Taliban wissen wir, dass sie die Kunst des Bildaktes perfekt beherrschen. Als sie die Buddha-Statuen von Bamiyan zerstörten, haben sie demonstriert, was es heisst, mittels der Macht der Bilder eine neue Wirklichkeit zu schaffen. Und wenn die Taliban tatsächlich die Klaviere im Kabuler Rundfunk zerstört haben, dann haben sie ihr Ziel gut gewählt. Denn das Bild des zusammengebrochenen Klaviers ist ja nicht nur wie Jerome Starke twitterte »Eine Vorahnung des Kommenden« angesichts der mutmaßlich bevorstehenden Restriktionen von Musik in Afghanistan durch das neue Talibanregime, sondern auch ein Spiegelbild der gerade zu Ende gehenden politischen Wirklichkeit Afghanistans auf der Grundlage des Nationbuilding. Das Klavier symbolisiert den Liberalismus ebenso wie die kulturelle Hegemonie des Westens mit seiner überheblichen Idee allumfassender Rationalisierung. Und ganz so wie die Statik der Konzertflügel war ja gerade erst dieser normative, auf rationalen und ethischen Prinzipien fußende Selbstanspruch des Westens und seine Vorstellung einer demokratischen Neuordnung Afghanistans zusammengebrochen.
Für den Fall aber, dass jemand anderes für diesen Bildakt verantwortlich zeichnet, dann haben wir es mit jemandem zu tun, der die Macht der Bilder ebenso sorgfältig zu kalkulieren vermochte. Dann ging es jedoch nicht um die Statuierung eines Exempels an der Musik, sondern um die Exemplifizierung eines Falls, der sich so tagtäglich in der Neuordnung Afghanistans abspielt. Dann war jemand am Werk, der ahnte, dass keine rationale Begründung ausreichen würde, um das weltweite Mitgefühl mit dem Failed State Afghanistan und dem Schicksal seiner Künstler aufrechtzuerhalten.

4. Musik und Gemeinwohl

Like, the piano is a very western instrument, that almost makes sense, but nothing barring one specific type of drum, and singing? It doesn’t even add up.

Esk, now with brain bees  @DreadPirateEsk 5. Sep. 2021

All this is Haram in Islam…. Do not Interfere other religions…..

Sadaqat @Sadaqat79327493 5. Sep. 2021 Antwort an @jeromestarkey @bsarwary und @Zabehulah_M33

No it isn’t. Most Muslim countries have musical traditions.

PerfumeAddict in France #FreeNazanin #ToriesOut @AddictPerfume 5. Sep. 2021

I don’t understand it at all because every human culture has music. It’s a universal. I have a PhD in this. Where does the idea even come from?!

Esk, now with brain bees  @DreadPirateEsk 5. Sep. 2021 Antwort an @jeromestarkey @joshspero und @Zabehulah_M33

The only music allowed is the male voice in service to their religion. Religion and State are one, and all aspects of life must serve it, hence the term Islamofascism.

broken sequitur @brek68148789 8. Sep. 2021 Antwort an @jeromestarkey @CHSommers und @Zabehulah_M33

The Middle East is like Merlin, it travels backwards in time.

Jason K @PotatomanJ1 9. Sep. 2021 Antwort an @jeromestarkey @CHSommers und @Zabehulah_M33

No music! Back to the Middle ages.

Fran Power @FPower1 8. Sep. 2021 Antwort an @jeromestarkey @CHSommers und @Zabehulah_M33

Das schreiben Menschen auf Twitter unter Starkeys Bilder der zerstörten Klaviere. Eine Diskussion, der gespeist ist, von einem bohrenden Zweifel: Ist Musik möglicherweise nicht jenes universelle, unantastbare Menschheitsgut? Liegt möglicherweise eine rationale Erwägung darin, sie zum besseren einer Gesellschaft zu bannen?

I am a believer that music isn’t forbidden but it can corrupt. Music that glorifies immorality and violence. Where it does not, like maybe Classical music or folk. Its a personal choice to listen.

The Path of Righteousness @AskariMamoun 6. Sep. 2021 Antwort an @DreadPirateEsk @jeromestarkey und 2 weitere Personen

Diese Twitterstimme erinnert daran, dass unsere musikalische Praxis durchaus ebenso utilitaristisch ist wie die der Taliban: Denn wir haben ja in der Tat einen instrumentellen, zweckgebundenen – mithin politischen Umgang mit Musik. Es ist ja nicht nur, dass Musik Unmoral und Gewalt glorifiziert. Sie steuert ja alle Bereiche des Lebens. Sie bewegt uns zum Tanzen oder nicht, sie animiert uns zum Einkaufen oder nicht, sie bringt uns zum Weinen oder nicht. Unser Gebrauch von Musik ist nie wertfrei. Wir repräsentieren, stimulieren, opponieren, verbinden, nehmen Raum ein, grenzen aus, identifizieren, reglementieren, überwältigen, steuern und foltern sogar mit Musik (Guantanamo). Bis in das romantische Phantasma, welches sich aus dem Geist der Musik die Neuschöpfung der ganzen Welt erhofft, ist diese Gebrauchslogik spürbar.

5. Das Gewicht des Klaviers

450 Kg wiegt ein mittlerer Konzertflügel. Drei kräftige Männer haben mehr als ihr Eigengewicht gehoben, um ihn in das erste Obergeschoss der ACC-Galerie zu transportieren. Klaviere haben allein aufgrund ihrer Bauweise, ihrer schieren Ausmaße und ihres Gewichts einen besonderen Status unter den Instrumenten. Es sind zwangsläufig unveräußerliche, schwer bewegliche Einrichtungsgegenstände, sie sind für bestimmte Räume gedacht und gemacht. Sie verankern die Vorstellung von Musik als universeller kultureller Praxis ebenso unverrückbar im Raum, wie den weltweiten Siegeszug der europäischen Harmonielehre.
Klaviere haben auf diese Weise eine doppelte Existenz: es sind persönliche Besitz- und Gebrauchsgegenstände ebenso sehr wie auf Sichtbarkeit angelegte öffentliche Objekte und Zeichen. Sie werden mühselig bei Umzügen Treppen hinauf und hinunter getragen, auch wenn sie von ihren Besitzern selten oder nie gespielt werden. Und sie werden hochversichert aufwändig von Konzertsaal zu Konzertsaal transportiert, weil Klaviervirtuosen nur auf ihren individuell abgestimmten Instrumenten zu spielen bereit sind. Klaviere wiegen also immer auch schwer an Bedeutungen: sie werden mit historischem oder handwerklichem Wert taxiert und sind mit privaten Erinnerungen aufgeladen. Es sind Investitionsobjekte, ebenso wie Gegenstände, an denen sich gesellschaftliche Zustände herauskristallisieren.

Max Weber hat in seinem wenig beachtet gebliebenen Ansatz zu einer Soziologie der Musik versucht aufzuzeigen, dass der Geschichte der europäischen Musik und insbesondere der Entwicklung des modernen Klaviers ein spezifischer Zug zur fortschreitenden Rationalität zu eigen sei. Der Schritt weg von der antiken pythagoreischen Stimmung hin zur freischwebenden, wohltemperierten Stimmung der modernen Klaviere habe demnach den Weg zur Polyphonie freigemacht und damit auch zur Vorstellung einer höherentwickelten und überlegenen Kompositionskunst.[7]
Die arabische und asiatische Welt hingegen hätte diesen Weg der Rationalisierung nicht beschritten und stattdessen die Einstimmigkeit auf der Grundlage der quintenreinen pythagoreischen Stimmung beibehalten. Seither sähe sich der globale Süden und Osten mit einer Hierarchisierung der musikalischen Systeme konfrontiert, an deren Spitze sich in ihrem Selbstverständnis die europäische Polyphonie gesetzt hat. Das Klavier in Kabul ist daher auch das Klavier im Dschungel: ein Symbol westlichen Überlegenheitsdenkens, dass die Idee einer durchrationalisierten, sich immer weiter vervollkommnenden Kunst nach europäischem Muster bis in die entlegensten Winkel der Erde transportiert.
Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass es ebenso ein Symbol jener lokalen Modernität in Afghanistan ist, die von der kolonialen Moderne verdeckt ist. Es ist angefüllt mit den Erinnerungen an ein autarkes musikalisches Leben in Afghanistan, dass sich erst mühselig gegen ein traditionelles Misstrauen gegenüber dem künstlerischen Gewerbe ebenso wie gegen westliche musikalische Hegemonie behaupten musste. Die Zerschlagung der Klaviere in Kabul verweist auf Beides: auf die Vorherrschaft der westlichen Kultur und die Weise wie sie diese über ihren Wert-Universalismus in allen Lebensbereichen verankert, ebenso wie die selbstbewusste Aneignung des künstlerischen Universalismus durch afghanische Künstlerinnen.

6. Instrumentenzerstörungen

1931 sieht man in Luis Bunuels Film l’age dor, wie ein Passant ganz beiläufig eine Violine auf dem Gehsteig zertritt,
1962 zertrümmert Nam Jun Paik eine Geige vor Publikum,
1964 zerschlägt Pete Townsend erstmals seine Gitarre auf der Bühne,
1967 zündet Jimi Hendrix sein Gitarre an,
Al Hansen stürzte ein Klavier vom Dach eines 5stöckigen Hauses.
Dean Anderson, ließ in Donaueschingen zunächst einen Konzertflügel auf die Bühne stürzen um ihn anschließend akribisch wieder wiederherzurichten,
Johannes Kreidler ließ auf der Bühne 100 Geigen auf der Bühne vom Publikum zertrampeln.

Symbolische Zerstörung sei Trauma-Bewältigung heißt es gemeinhin. Autodestruktive Kunstwerke würden zerstörerische Impulse in gelungene Produkte transformieren. Sie würden sublimierend wirken. Sie würden Dekonstruktion als ein kreatives Konzept begreifen. Sie wären kapitalismuskritisch und würden sich gegen den Ballast der Geschichte und den Kanon der Kunst wenden. Sie würden das zeigen, was im Leben nicht geschehen soll – und unsere Kulturarbeit würde darin bestehen, die zerstörerischen Triebe, die in uns allen schlummern, im Kunsthandeln auszuagieren.


Anfang September 2021 wirft Negin Khpalwak, die 24jährige Dirigentin des ersten Afghanischen Mädchenorchesters alle Fotos und Zeugnisse ihre musikalischen Laufbahn auf einen Haufen und verbrennt sie. Sie will nicht warten, bis sie in die Hände der Taliban fallen. Es fühlte sich furchtbar an, so als ob die Erinnerung an mein ganzes Leben zu Asche verbrannt wäre, sagt sie später einem Reuters-Journalisten, nachdem es ihr gelungen ist, in die USA zu fliehen.[10] Der 28jährige Gitarrist Awa aus Kabul berichtet einem AFP-Reporter, er hätte alle seine Instrumente zerstört, bis auf eine Gitarre, die er an einem geheimen Ort versteckt hat. Zur gleichen Zeit gehen Gerüchte um, auch die Musiker des Afghanistan National Institute of Music hätten alle ihre Instrumente zerstört, noch bevor es zu dem befürchteten Musikverbot durch die Taliban gekommen sei.


Der Kulturhistoriker Gunnar Schmidt hat ein ganzes Buch nur zur Geschichte der Klavierzerstörungen in Kunst und Popkultur geschrieben.[11] Schmidt sagt, künstlerische Klavierzerstörungen seien keine kathartischen Gesten, sondern »epochenspezifische Reaktionen auf unheilvolle Wirklichkeiten«.[12] Sie würden demnach ihre destruktive Bildenergie auch aus spezifischen Gewalterfahrungen und Kontexten der Gegenwart ziehen.
Vielleicht haben wir es also tatsächlich auch bei den Kabuler Klavieren mit einem Kunstwerk zu tun – mit einem gut kalkulierten Fluxuszitat, mit der Appropriierung des Genres der Zerstörung von Musikinstrumenten als Teil einer autodestruktiven Kunst, für die wir ja eine eigene Geschichte haben.


Johannes Kreidler warf man vor, er hätte seine Geigen, anstatt sie vom Publikum zertreten zu lassen, lieber Kindern spenden sollen, die sich kein eigenes Musikinstrument leisten können. Und der Komponist Philip Corner lehnte 1962 bei einer Aufführung seiner Komposition Piano Activities die Zerstörung eines Klaviers durch eine Gruppe von Fluxus-Künstlern um George Maciunas ab, weil er sie als »riskante Artikulation in einer Welt voller Destruktion« erachtete.[13]


Was tun angesichts der schieren Sinnlosigkeit der Instrumentenzerstörung im Kabuler Rundfunk? Angesichts dieser riskanten Gewaltartikulation in einer Welt voller Destruktion? Vielleicht finden wir etwas Trost, wenn wir im Angesicht eines solchen Erbärmdebildes eine Haltung einnehmen, die Richard Rorty als die einer liberalen Ironikerin bezeichnet, welche sich von der – wie er meint – althergebrachten metaphysischen Moralphilosophie verabschiedet:

»Der liberale Metaphysiker möchte unseren Wunsch, freundlich zu sein, durch ein Argument gestützt sehen, dass eine Selbstbeschreibung enthält; diese Selbstbeschreibung soll ein Glanzlicht auf ein allen Menschen gemeinsames Wesentliches werfen, dass mehr ist als die gemeinsame Fähigkeit, Demütigung zu erleiden. Die liberale Ironikerin möchte nur, dass unsere Chancen freundlich zu sein und die Demütigung anderer zu vermeiden, durch Neubeschreibung erhöht werden. Sie meint, die Erkenntnis, dass uns die Verletzbarkeit durch Demütigungen gemeinsam ist, sei das einzige soziale Band, dass wir brauchten. Während der Metaphysiker die Beziehung seiner Mitmenschen zu einer höheren Macht, die alle anerkennen – Rationalität, Gott, Wahrheit oder Geschichte -, für das moralisch relevante Charakteristikum hält, nimmt die Ironikerin an, dass die moralisch relevante Definition einer Person, eines moralischen Subjekts, heiße: »etwas, dass gedemütigt werden kann«. Ihr Verständnis dessen, was menschliche Solidarität ist, gründet sich auf das Gefühl einer gemeinsamen Gefahr, nicht auf einen gemeinsamen Besitz oder eine Macht, an der alle teilhätten.« [14]

Wenn wir mit Rorty aufhörten, uns an unserem Mitleid zu ergötzen, wenn wir unser »Engagement mit dem Sinn für die Kontingenz unseres Engagements verbinden«, dann könnten wir sehen, dass im Bild der zerstörten Klaviere nicht das normative Selbstverständnis der freien Welt, sondern vielleicht nur ein weiterer Pfeiler jener metaphysischen Moral weggebrochen ist, von der Rorty meint, sie würde einer bedingungslosen Solidarität im Weg stehen, solange wir Solidarität immer noch »auf dem Wiedererkennen eines Kern-Selbst, des wesentlich Menschlichen in allen Menschen« gründen. [15]


[1] Rotting dead Russian soldiers found in trenches as Putin continues slaughter in east Ukraine: https://www.youtube.com/watch?v=rrbJ2Y4xHWg

[2] https://www.republicworld.com/world-news/rest-of-the-world-news/after-talibans-takeover-piano-and-other-musical-instruments-destroyed-in-afghanistan.html

[3] https://twitter.com/Real_AryanKhan/status/1433753837387530240

[4]  https://twitter.com/jeromestarkey/status/1434412922126614530

[5] https://www.facebook.com/100009079838751/videos/411818554058275

[7] Weber, Max: Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik, hrsg. v. Theodor Kroyer, München: Drei Masken Verl. 1921.

[10] https://www.reuters.com/world/asia-pacific/day-music-died-afghanistans-all-female-orchestra-falls-silent-2021-09-03/

[11] Schmidt, Gunnar: Klavierzerstörungen in Kunst und Popkultur, Berlin: Reimer 2013.

[12] Schmidt: Klavierzerstörungen in Kunst und Popkultur.

[13] Ebd.

[14] Rorty, Richard: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Bd. 981, 1. Aufl., [Nachdr.] Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 981), S. 156.

[15] Ebd., S. 310.